Alain Claude Sulzer: Unhaltbare Zustände
Zwei Tage sind sie hinter Papier versteckt, dann werden die sieben grossen Schaufenster feierlich enthüllt – und lassen die Waren des alteingesessenen Quatre Saisons in neuem Glanz erstrahlen. Für diese Momente lebt und arbeitet Schaufensterdekorateur Stettler, und das schon mehrere Jahrzehnte. Nun, mit knapp sechzig, wird ihm überraschend ein jüngerer Kollege zur Seite gestellt – ein Rivale, ein avisierter Nachfolger, ein Feind! Stettlers Welt beginnt zu bröckeln. Es ist das Jahr 1968, und es bröckelt auch sonst alles, die jungen Leute tragen Blue¬jeans und wissen nicht mehr, was sich gehört. Für Stettler beginnt ein zähes Ringen mit der Zeit und mit dem Alter, bei dem er nur verlieren kann. Allein mit einer von ihm bewunderten Radiopianistin, Lotte Zerbst, wechselt er Briefe und fühlt sich nicht so verloren. Er hofft sogar auf eine Begegnung…
(Galiani Berlin 2019, 266 Seiten)
Roman Bucheli, NZZ 23.8.2019:
Das Buch erzählt davon, wie eine Welt auseinanderbricht. Das fährt den Menschen umso mehr in die Knochen, als es eine Welt betrifft, die seit Menschengedenken war, wie sie gerade noch ist –, und gleich nicht mehr sein wird. Denn die Zustände sind unhaltbar geworden. Diesen Kippeffekt lässt Sulzer seine Leser an sich selber spüren: Sie erkennen sich selbst in der Spra-che und in der Denkungsart des Romans – und werden brachial aus dieser schönen Behaglich¬keit hinausgeworfen.
Tabea Steiner: Balg
Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich für Antonia und Chris als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist anstrengender als erwartet und zu den Gefühlen von Isolation und Über-forderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Das Paar trennt sich und Antonia sorgt fortan alleine für Timon. Sie droht im tristen, von Armut geprägten Alltag unterzugehen und kümmert sich nur halbherzig um ihren Sohn. Timon wehrt sich immer verzweifelter gegen diese Vernachlässigung, doch niemand erkennt den Hilferuf; Timon wird nur noch stärker ausge-grenzt. Einzig der ehemalige Lehrer Valentin, der sich im Dorf, wie Timon, zugleich eingeengt und ausgeschlossen fühlt, findet Zugang zu dem Jungen. Zwischen den beiden wächst ein fra-giles Vertrauen, das von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugt wird. In einem kunstvollen Spiel der Perspektiven beleuchtet Tabea Steiner eindrücklich die schlei-chende Eskalation zwischen Timon und Antonia sowie die zögerliche Annäherung zwischen Valentin und Timon. In kurzen Szenen werden subtile Entwicklungsschritte präzise eingefan-gen. Jedes gesagte Wort, jede Geste zählt und das Ungesagte wiegt schwer.
(edition bücherlese 2019, 236 Seiten)
Mirjam Comtesse, Tagesanzeiger 2.4.2019:
«Mich interessiert, wieso Menschen oft gegen ihre eigenen Interessen handeln», sagt Tabea Steiner. Eine Antwort hat sie nicht gefunden, aber das Buch zeigt auf, wie Menschen sich immer wieder in ausweglose Situationen hineinmanövrieren.
Simone Lappert: Der Sprung
Manu, eine junge Frau in Gärtnerkleidung, steht auf dem Dach eines Mietshauses. Sie brüllt, tobt, wirft Gegenstände hinunter, vor die Füsse der zahlreichen Schaulustigen, der Presse, der Feuerwehr. Einen Tag und eine Nacht lang hält die Stadt den Atem an. Für Finn, den Fahrrad-kurier, der sich erst vor kurzem in Manu verliebt hat, bleibt die Zeit stehen. Genau wie für ihre Schwester Astrid, die mitten im Wahlkampf steckt. Den Polizisten Felix, der Manu vom Dach holen soll. Die Schneiderin Maren, die nicht mehr in ihre Wohnung zurückkann. Für sie und sechs andere Menschen, deren Lebenslinien sich mit der von Manu kreuzen, ist danach nichts mehr wie zuvor. Ein lebenspraller Roman über eine eigenwillige Frau und über die Schicksale, an denen wir voreingenommen oder nichtsahnend vorübergehen. Mit Esprit, Sinnlichkeit und Humor erzählt Simone Lappert vom fragilen Gleichgewicht unserer Gegenwart.
(Diogenes Verlag 2019, 331 Seiten)
Martin Ebel, Tagesanzeiger 26.8.2019:
Lapperts «Wurfschatten», vor fünf Jahren erschienen, das Porträt einer von Ängsten gebeutel-ten jungen Schauspielerin, erntete Respekt, aber auch Kritik, bis zur Bösartigkeit. Mit dem neuen Roman muss die Autorin jetzt auch aus dem Schatten ihrer Protagonistin treten – also der engen Erzählperspektive. Sie tut dies auf verblüffende und souveräne Weise: indem sie sie erweitert zum Panorama. […] Insgesamt aber ist Simone Lappert der Schritt vom Ich zur Welt, von der Naheinstellung zur Totale, der Sprung vom ersten zum zweiten Roman (und, nicht zuletzt, zum grossen Publikums¬verlag Diogenes!) auf respektgebietende Weise gelungen.
Ivna Žic: Die Nachkommende
Hochsommer. Eine junge Frau reist in einem Zug von Paris nach Kroatien, wo, wie jeden Som-mer, die Familie auf der Grossmutterinsel wartet. Sie denkt an den Mann, mit dem sie ein Jahr lang eine Beziehung führte, die nie wirklich anfangen konnte: Er ist verheiratet, ein Maler, der nicht mehr malt. Im fahrenden Zug setzt sich der tote Grossvater zu ihr. Auch er ein Maler, auch er hatte aufgehört zu malen. Die zwei abwesend-anwesenden Männer werden zu ihren Beglei¬tern auf einer Reise in die Vergangenheit und die Erinnerung, aus der sich eine Familienerzäh¬lung konstituiert: Eine Erzählung von Auswanderungen, die eine Unzahl von Bewegungen aus¬gelöst haben. Im Spannungsfeld von geografischen und sprachlichen Verschiebungen, in diesen von Ge-schichten besetzten Räumen, erzählt Ivna Žic in ihrem Debütroman mit einer beeindruckend klangvollen Sprache von einer beginnenden Suche, die zugleich das Jetzt und das Damals ab-tastet.
(Matthes & Seitz Berlin 2019, 164 Seiten)
Christine Richard, Tagesanzeiger 7.8.2019:
Wie aus dem Nichts kommt die junge Schweizer Autorin Ivna Žic mit ihrem ersten Roman Die Nachkommende. Kein Migrantenroman üblicher Bauart. Keine experimentellen Faxen. Inhalt und Sprache gehen wie magisch ineinander auf. […] Es ist ein kleines literarisches Wunder, wie es die Fantasiearbeit der Autorin schafft, den Leser mitzunehmen. Wenige Seiten Lektüre ge-nügen, und man steigt nicht mehr aus.
Sibylle Berg: GRM
Die Geschichte beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Hier leben Hannah, Karen, Don und Peter, vier Jugendliche, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates, die Manipulationen durch die sozialen Medien. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die grösste musikalische Re-volution seit dem Punk. Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Rettung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Nach dem Brexit und ein paar beherzten Reformen lebt die Bevölkerung in einer perfekten, glücklich machenden Überwachungsdiktatur. GRM ist ein Buch der Stunde. Es stellt die Frage nach unserer Zukunft in jeder Konsequenz. Ein vielstimmiger Gesellschaftsroman, ein folgenreiches Experiment.
(Kiepenheuer & Witsch 2019, 634 Seiten)
Philipp Theisohn, NZZ 14.5.2019:
Man kann sich Sibylle Bergs jüngstem Buch «GRM» auf zwei Wegen nähern. Zunächst einmal in kundenfreundlicher Manier über den Plot: Vier britische Kids, durch Armut, elterliche Verstos-sung, Rassendiskriminierung, sexuelle Gewalt und Rauschmittelkonsum maximal herkunftsge-schädigt, fassen den Plan, sich an ihren Peinigern zu rächen. Situiert ist dieses Szenario in der Stadt Rochdale, die in diesem Jahrzehnt durch die Aufdeckung eines Kartells organisierter Kin-derprostitution in die Schlagzeilen geraten ist.